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Wo Poldi an der Decke hängt

complete Magazin 12/23

Nach Jahren der Planung, heftigen Debatten und zweieinhalbjähriger Umbauphase heißt das Wien Museum mit seinem Praterwal Poldi nun Besucher:innen willkommen  

 

Fast zehn Meter lang und 1,4 Tonnen aus Kupferblech und Holz: Poldi, der Wal, der einst den Praterwirt „Zum Walfisch“ zierte
© Lisa Rastl
Anstatt in der Altstoffverwertung filetiert zu werden, wurde Poldi im Zwischengeschoß des Wien Museums eingemauert
© Kollektiv Fischka/Kramar
Die 1.200 Quadratmeter Sonderausstellungsfläche im Schwebegeschoß werden voraussichtlich ab dem Frühjahr für Besucher:innen öffnen
© Kollektiv Fischka/Kramar
Der Neubau der Büros Winkler + Ruck und Ferdinand Certov Architekten schwebt über Oswald Haerdtls 50er-Jahre-Gebäude, ohne es zu berühren
© Kollektiv Fischka/Kramar

Darf, ja soll man sie ergreifen? Vielleicht ist es eine Spätfolge der Pandemie: ein Fremdeln, wenn einem statt eines Ellenbogenchecks zur Begrüßung eine freundliche Hand entgegengestreckt wird. So viel Intimität irritiert. Insofern hatte die Eröffnung des umgebauten Wien Museums am 6. Dezember geradezu einen therapeutischen Aspekt: Das neue Entree will der Stadt nämlich „die Hand reichen“, wie es Christina Schwarz, die Finanzdirektorin des Wien Museums, bei einer Führung kurz vor dem großen Eröffnungstermin sagt.

Wie sieht ein architektonischer Händedruck aus? Ein zehn Meter hoher Glaspavillon umschließt den alten Eingang des in den 1950er-Jahren von Oswald Haerdtl entworfenen Wien Museums. Es ist ein Ort des Ankommens und Wartens, an dem künftig Schulkassen bei Regen im Trockendock stehen werden. Mit Blick auf die Karlskirche und, dank sich je nach Sonneneinstrahlung automatisch verdunkelnder Scheiben, immer wohltemperiert. Auch Altbekanntes findet sich hier: der bronzefarbene Aschenbecher, mit dem Haerdtl die Fassade einst ausgestattet hatte. Asche aus sieben Jahrzehnten hätten die Restaurator:innen aus ihm entfernen müssen, erzählt Christina Schwarz lachend. Jetzt ist er ein funktionsloses, aber schmuckes Objekt, denn geraucht wird im Wien Museum längst nicht mehr.

Mehr als ein Jahrzehnt Diskussion und Planung

Der Weg zur Eröffnung war lang, mitunter steinig und auf jeden Fall wienerisch: 2009 verkündete der damalige SPÖ-Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny, es werde noch „vor den nächsten Wahlen“ zur Ausschreibung eines Wettbewerbs kommen. Das Gebäude war zu klein geworden und baufällig obendrein – mancherorts schimmelte es bereits. Ein Jahr verstrich, ehe die neu gewählte rot-grüne Koalition das Wien Museum in ihr Regierungsprogramm aufnahm. Weitere zwei Jahre vergingen mit der Diskussion, ob Haerdtls denkmalgeschützter Bau am Karlsplatz erhalten oder doch lieber am Hauptbahnhof oder noch besser auf der grünen Wiese an der Peripherie neu gebaut werden sollte. Schließlich einigte man sich auf den Karlsplatz. Dann folgte – Stille.

2013 fiel der Beschluss für die Renovierung und Erweiterung des bestehenden Baus. Dann der Paukenschlag: 2015 setzten sich die Büros Winkler + Ruck und Ferdinand Certov Architekten aus der Steiermark in einem Architekturwettbewerb gegen 274 Büros aus 26 Ländern durch. Ihre Vision: kein solitärer Zubau à la Louvre-Pyramide, sondern ein Schwebegeschoß, das Haerdtls Altbau auf rund 12.000 Quadratmeter Nutzfläche fast verdoppelt, ohne diesen auch nur zu berühren. Klingt magisch und war Grund genug, den Entwurf in Wien bereits im Vorfeld als architektonischen Bauchfleck zu schmähen. € 108 Millionen budgetierte die Stadt für das neue Wien Museum – laut Museum blieb man im Rahmen.

Schwebender Stahlbeton für neue Etage

Baubeginn war im Juli 2020. Man bemühte sich, die Fassade des Altbaus zu bewahren, die verformten und verfärbten Teile zu ersetzen, Marmor-Parapeten aus demselben Wachauer Steinbruch wie die Haerdtl-Originale und weißen Stein aus dem kroatischen Trogir zu beschaffen sowie die Fenster zu rekonstruieren. Zeitgleich wurde hier ein Neubau aus dem Boden gestampft. Oder besser gesagt: in den Boden.

Wo das überdachte Atrium des Wien Museums gewesen war, rammte eine 140 Tonnen schwere Bohrpfahlmaschine im ersten Herbst des Ellenbogenchecks 45 Pfähle vierzig Meter tief in den Boden, um das Fundament zu stärken. Denn der Wienfluss macht hier den Untergrund nicht sehr belastbar. Eine Stahlbetonkonstruktion aus zwei riesigen Stehern und einer Wand wurde im Boden verankert, auf der vier Meter über dem Altbau die neue Etage aufliegt. Das dabei entstandene Zwischengeschoß wurde mit Glas eingefasst. 1.200 Tonnen Stahl brauchte der schwebende Neubau, den lediglich eine etwa handbreite schwarze Fuge vom Haerdtl-Altbau trennt. „Die Architekt:innen Winkler, Ruck und Certov haben sich damit nicht vor oder über Oswald Haerdtl gestellt, sondern neben ihn“, befindet Finanzdirektorin Christina Schwarz.

Kirchenschiff mit Praterwal und Waldheim-Pferd

Im Foyer kann man sich eines gewissen „Zurück-in-die-Zukunft“-Gefühls nicht erwehren: Der alte Boden aus rostfarbenem Adneter Marmor und Kelheimer Kalkstein glänzt, nach dreijähriger Einhausung, frisch poliert. Im originalen Stiegengeländer fügen sich neue Streben, aufgrund der bautechnischen Vorschriften ergänzt, harmonisch zu den alten. Hier inhalieren Besucher:innen die 1950er-Jahre samt einem Hauch Klebergeruch, der noch in der Luft liegt. Die Dauerausstellung beginnt im Anschluss chronologisch in der Frühzeit.

Der spektakulärste Raum öffnet sich im ersten Stock: An der Längsseite der Kultur-Kathedrale schraubt sich das Stiegenhaus des Neubaus aus hellem Sichtbeton in die nächste Etage. Hoch oben schwebt der fast zehn Meter lange und 1,4 Tonnen schwere Praterwal Poldi aus Holz und Kupferblech. Bis 2013 schmückte er das Gasthaus „Zum Walfisch“ im Wiener Prater. Beim Museumsbau wurde Poldi nun hier eingemauert – das Zwischengeschoß wurde erst eingezogen, nachdem der Wal am Plafond verankert worden war. Entworfen hatte die Skulptur Maria Benke, eine junge Absolventin der Akademie für angewandte Kunst, in den 1950er-Jahren. Zwar leuchten heute Poldis Augen in der Dunkelheit nicht mehr blau, auch bläst er keine Wasserfontänen mehr aus seinem Blasloch, aber immerhin konnte die Pater-Ikone vor der Altstoffverwertung gerettet werden. Poldi darf nun, umgeben von weiteren geschichtsträchtigen Objekten, von der Museumsdecke baumeln. „Im Ganzen bekommen wir Poldi hier nie wieder hinaus“, sagt Christina Schwarz. „Entweder er oder das Haus müsste filetiert werden.“

Poldi ist hier in bester Gesellschaft: An seiner Breitseite hängt ein hölzerner Galawagen, im 19. Jahrhundert die Kutsche des Wiener Bürgermeisters. Die Längswand zieren die silberfarbene Letter des abgerissenen Südbahnhof-Schriftzugs. Auf Augenhöhe mit den Besucher:innen stehen einige Bleifiguren des Bildhauers Raphael Donner. Ihre bronzenen Doppelgänger:innen rahmen draußen am Neuen Markt den Donnerbrunnen. Daneben ein historisches Modell des Stephansdoms. Nicht zu vergessen die Galionsfigur der österreichischen Nachkriegsgeschichte: das vier Meter hohe hölzerne „Waldheim-Pferd“. Der Bildhauer Alfred Hrdlicka hatte es in den 1980er-Jahren für den Republikanischen Club entworfen. Dieses Trojanische Pferd gilt als Symbol für Österreichs schlampigen Umgang mit seiner NS-Vergangenheit. Auslöser war, was als „Waldheim-Affäre“ heimische Geschichte schrieb: Der ÖVP-Präsidentschaftskandidat Kurt Waldheim hatte 1986 versucht, seine Jugendjahre als Wehrmachtssoldat zu verheimlichen, und wurde so zum Repräsentanten für die Wehrmachtsgeneration, die nichts vom Holocaust gewusst haben wollte.

Im Frühjahr dann doppelt so groß

Wem angesichts der mehr als 1.700 Ausstellungsstücke der Sinn nach Luft steht, dem sei eine Atempause auf der weitläufigen, frei zugänglichen Terrasse angeraten. Der Ausblick auf den Karlsplatz und eine der schönsten Kirchen Wiens erfrischt, ehe man wieder in die Abgründe der Wiener Geschichte eintaucht. Um wirklich alle Objekte genau betrachten zu können, bedarf es mehrerer Besuche. Zumal – voraussichtlich im kommenden Frühjahr – weitere 1.200 Quadratmeter Sonderausstellungsfläche im Schwebegeschoß hinzukommen. Da kommt man gern wieder und nicht nur, weil das Wien Museum nach angelsächsischem Vorbild gratis zugänglich ist. Eine Anmeldung wird aber zumindest in den ersten Wochen nach der Eröffnung nötig sein.

© Foto-Katsey

TIPP

Seit 6. Dezember sind die Türen des Wien Museums wieder geöffnet. Der Besuch der Dauerausstellung ist kostenlos.

www.wienmuseum.at

Bild: Plakatkampagne zur Eröffnung

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