Kugeln voll ewigen Schnees

Ein eher seltenes Szenario in Wien: Schneegestöber mit großen und dicht fallenden Flocken. Auf keinen Fall zu feucht. Auch zu windig sollte es nicht sein. Denn der Tanz muss von innen kommen. Und bald schon legen sich die Flocken als weißer Pelz auf Schultern und Mütze. Während sie ringsum wirbeln, steht die Welt einen leisen Moment lang still.

Auch Hernals steht ein bisschen still. Ein Bauboom wie in anderen Wiener Außenbezirken ist hier nur in Ansätzen ausgebrochen. In der Schumanngasse gar nicht, und erst recht nicht in der „Originalen Wiener Schneekugel“, die im zweistöckigen Fuhrwerkerhaus mit der Nummer 87 erfunden wurde. Ein Ort, an dem Geheimnisse besonders gehütet werden, vor allem die genaue Zusammensetzung des „Hernalser Schnees“. Auch deshalb bleiben manche Bereiche der Altwiener Hinterhofmanufaktur, die jährlich 200.000 Schneekugeln produziert, „off limits“.

Über das Geheimnis vom alten Schnee

So viel kann über das seit vier Generationen nur mündlich weitervererbte Geheimrezept trotzdem verraten werden: Der Schneesturm in der Glaskugel besteht aus Wachs, Kunststoff und einer Extraportion Zeit. Während der Schnee bei Billigprodukten aus dem Fernen Osten binnen weniger Sekunden herunterfällt, und noch dazu in glanzlosen Plastikkugeln, schafft es das Wiener Original, den Moment des Westentaschenwinters in die Länge zu ziehen. Bis zu zwei Minuten kann das bei der originalen Wiener Erfindung dauern, die seit 1900 Spielzeuggeschichte schreibt. Sofern man die Idee, inmitten einer hermetisch abgeschlossenen Kugelwelt einen vielfältigen Mikrokosmos zu schaffen und ihn in ewigen Winterzauber zu betten, Spielzeug nennen möchte.

Herr Perzy und die Schusterkugel

So leicht war das mit Winter in der Kugel nicht. Am Anfang rieselt leise der – Gries. Besser wusste es einst Erwin Perzy I. nicht. Sein Portrait hängt heute im Wiener Schneekugelmuseum im Erdgeschoß der Manufaktur. Es ist das Bild eines ruhigen, ja fast möchte man sagen verträumten Mannes. Eines Tüftlers, der die heile Welt zunächst außerhalb seiner Wiener Schneekugeln suchte. Nämlich im Rahmen der Profession eines Mechanikers für Chirurgenbesteck, der auf Bitten der Wiener Jahrhundertwendeärzte irgendwann auch über die optimale Ausleuchtung der Operationssäle nachdachte. Dabei stieß Perzy auf die Schusterkugel.

Die erste Schneekugel mit Mariazell

Schusterkugeln waren im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts bekannte Objekte: Glaskugeln mit einem röhrenförmigen Ende, die Schuster mit Wasser füllten und mit einer Kerze hinterleuchteten, um sie so als eine Art Lupe zu verwenden. Irgendwann müssen einzelne Zutaten glücklich zusammengefunden haben: Schusterkugel, Wasser, Gries und schließlich die Idee, darin ein Modell der Wallfahrtskirche Mariazell zu platzieren. Die „Glaskugel mit Schneeeffekt“ meldete Erwin Perzy zum Patent an. Es war bereits sein zweites: Durch die Entwicklung einer Zinnlegierung hatte er zuvor das Silvesterbleigießen optimiert.

Eine der frühen Mariazeller Schneekugeln ist das älteste Exponat des Museums in der Schumanngasse. Historische Werkzeuge sowie die Schusterkugel finden sich da auch. Nebst allerlei Skizzen für Glaskugelentwürfe, Zutaten zur Plastikfärbung und einem Verweis aufs Wiener Hochquellenwasser, denn nur das Beste kommt in den Kugelschneesturm. Merchandisingprodukte und Sondermarken-Editionen zeugen vom Erfolg der schon bald international vertriebenen Wiener Erfindung. In den 1920er-Jahren hatte sie es bereits bis nach Indien geschafft, auch war sie von Kaiser Franz Joseph I. mit einer besonderen Auszeichnung bedacht worden.

Nach den Weltkriegen startete die Idee in den USA durch. 150 verschiedene Motive, darunter Santa Claus, schlüpften in die kugelrunde Altwiener Winterwelt, um in prestigeträchtigen Kaufhäusern für Begeisterung zu sorgen. Als sich Ronald Reagan um die Präsidentschaft bemühte, mischten die Glaskugeln sogar in der US-Innenpolitik mit. Republikaner wie Demokraten brachten Tausende ihrer Maskottchen, die einen den Esel, die anderen den Elefanten, im Hernalser Kunstschneetreiben unter, um für die Wahl der eigenen Partei zu werben.

Kugelschnee für Diktatoren und eine Ballerina

Auch ein ehemaliger Präsident Turkmenistans steht in einer großen Glaskugel im Schnee, begleitet von seinem Lieblingspferd. Spione, Giftspritzen und Folterknechte seines Regimes müssen draußen bleiben. Schließlich ist die Wiener Schneekugel ein Sehnsuchtsort für rare Momente des Glücks. Das belegen nicht zuletzt die kleinen Geschichten der im Inneren der Glaskugelwelt festgesetzten Figürchen. Die Pirouette der Ballerina zählt dazu. Ebenso der Moment eines Gipfelsieges oder die aristokratische Einsamkeit weltentrückter Pinguine. Eisbären beim Skifahren, eine korpulente Badenixe im 1920er-Jahre-Kostüm oder ein Kicker in grünem Dress, hoffentlich von Rapid Wien. Auch wurde alles, was Wien zu geben hat, gekugelt: Wiener Zucker und ein Gugelhupf, der Steffl, das Riesenrad, die Sachertorte, Mozart und Sisi sowieso. Aber auch Sigmund Freuds berühmte Couch wird eingeschneit. Ein Zeichen dafür, dass sich auch Insassen einer verschneiten Glaskugelwelt einmal aussprechen müssen.