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Ist Heuschrecke das neue Huhn?

complete Magazin 09/23

Die EU lässt Insekten als Lebensmittel zu. Sie sollen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: das Welternährungsproblem lösen und den Klimawandel eindämmen. Das Wiener Unternehmen ZIRP Insects liefert Insektenprodukte.

Aktuell sind innerhalb der EU vier Insekten zum Verzehr zugelassen. Eines davon ist die Wanderheuschrecke
© Foto 66/Adobe Stock
Insekten gelten als nachhaltige Proteinquelle, die mit kleinem CO2-Fußabdruck das Welthungerproblem lösen könnte
© ZIRP Insects
Insektenprotein in Pulverform lässt sich wie beispielsweise auch veganes Erbsenprotein einfach weiterverarbeiten. Etwa zu Burger-Patties
© Bartek/AdobeStock
Der studierte Gesundheitsmanager Christoph Thomann gründete 2017 ZIRP Insects
© Dominik Geider

Lange Fühler, sechs flinke Beine, harte Schale, Mundwerkzeuge. Zwischen Krebstieren und Insekten herrscht eine entfernte Verwandtschaft. Der Unterschied? Krebse gelten bei uns als Delikatesse, Insekten als Ungeziefer. Was also, wenn Heuschrecken, Maden und Co. plötzlich auf dem Teller liegen?

Was hierzulande zwischen kulinarischem Tabu, ausgefallenem Future Food und provokanter Modeerscheinung changiert, ist anderenorts so alltäglich wie unsere Extrawurstsemmel: Rund zwei Milliarden Menschen essen regelmäßig Insekten. Vor allem in Afrika, Asien, Südamerika und Australien, berichtet die UN-Welternährungsorganisation FAO (Food and Agriculture Organization).

„Entomophagie“ heißt das wissenschaftlich. Und bedeutet zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: das Welternährungsproblem lösen und den Klimawandel eindämmen. Insekten sind eine CO2-arme Nährstoffquelle. Sie verbrauchen deutlich weniger Wasser, Land und Futter als traditionelle Nutztiere. Als die FAO das vor zehn Jahren berichtete, erregte es großes Aufsehen.

Hausgrillen als Lebensmittel

Seither ist einiges passiert. Internationale Spitzenköche wie René Redzepi oder Alex Atala setzen ihren Gästen Insekten vor. Lebensmittel aus Insekten sind bereits in manchen heimischen Supermärkten erhältlich. Im Jänner hat die Europäische Union teilweise entfettetes Pulver aus Hausgrillen als Lebensmittel zugelassen. Gegenwärtig dürfen laut EU vier Insekten als Lebensmittel verkauft werden: Mehlwürmer, Wanderheuschrecken, Buffalowürmer und Hausgrillen. Das klingt noch nicht nach dem großen Krabbeln. Warum sind Insekten nicht längst das neue Huhn?

Ein Grund dafür ist die behäbige Gesetzgebung. Produzent:innen müssen für jedes Insekt, das sie auf den EU-Markt bringen wollen, eine Zulassung im Rahmen der Regeln zu „neuartigen Lebensmitteln“ beantragen. Drunter fallen alle, die in der EU vor Mai 1997 nicht in nennenswertem Umfang konsumiert wurden. Dass im Europa der Nachkriegszeit Maikäfersuppe ein verbreiteter Proteinspender war und Bienenlarven im alten Rom als Luxus galten? Längst vergessen.

Die Zulassung als neuartiges Lebensmittel ist langwierig: Bei jedem Antrag prüft die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) mit einer wissenschaftlichen Untersuchung. Danach stimmen die einzelnen EU-Staaten ab. Erst dann kann die Kommission eine Zulassung beschließen.

Riegel, Falafel und Burger aus Insekten

Christoph Thomann ist Gesundheitsmanager und Gründer von ZIRP Insects in Wien. Er nennt die starke Fleischlobby als nicht unwesentlichen Grund für die zähe Entwicklung. „Fleischproduzent:innen wollen, dass der Markt so bleibt.“ ZIRP Insects entwickelt seit 2017 Lebensmittel aus Insekten. Die Firma vertreibt Trockenmischungen mit Insektenprotein für Falafel, Palatschinken, Brownies oder Haferlaibchen, außerdem Protein-Riegel und Burger-Patties. Züchtet Thomann Insekten für die von ihm kreierten Produkte selbst?

Nein, ZIRP Insects bezieht sie von europäischen Züchter:innen. Sie haben sich auf die Produktion von Insekten für den menschlichen Verzehr spezialisiert und werden wie Fleischbetriebe regelmäßig auf Hygiene und die Einhaltung der Standards kontrolliert. „Anders als Säugetiere und Vögel, deren Fleisch in unseren Supermärkten verkauft wird, sind unsere Insekten frei von Zusatzstoffen und Antibiotika“, sagt Thomann.

Insekten als das nächste Sushi

Während seines Studiums vor zehn Jahren suchte Thomann nach nachhaltigen Lösungen zur Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung im Klimawandel. „Insekten sind vermutlich die einzige Chance, um künftig den weltweiten Proteinbedarf nachhaltig zu decken.“

Kritik daran kommt von Tierschutzorganisationen wie PETA. Sie lehnen die industrielle Zucht von Insekten als Massentierhaltung ab. Und die Tötungsmethoden: Einfrieren bei mindestens -18 °C oder Verbrühen in kochendem Wasser oder Wasserdampf bei mehr als 100 °C. Die Zucht und der Verzehr von Insekten bergen Gesundheitsrisiken und erhöhen die Gefahr von Zoonosen, lautet die Kritik. Zoonosen sind Infektionskrankheiten, die Tiere auf Menschen übertragen können. Auch könnten Lebensmittel aus Insekten Reaktionen bei Menschen mit einer Allergie gegen Krebs- und Weichtiere sowie Hausstaubmilben auslösen.

„Viele Insekten und deren Larven brauchen den engen Kontakt zu ihren Artgenossen“, sagt Thomann zur Massentierhaltung. Die Tötung per Frost sei artgerecht, immerhin würden viele Insekten auch bei Wintereinbruch auf diese Weise sterben.

Garnelen kamen in den 1960er-Jahren durch Italienreisende in die heimische Küche. Was bringt künftig Insekten auf unsere Teller? „Eine Gewohnheitsveränderung“, sagt Thomann. Vor allem aber ein erster Bissen.

Verglichen mit Fleisch sei der Markt für Insektenprotein noch überschaubar. „Die nachkommende Generation ist dafür offener. Aber um Insektenprotein effektiv zu nutzen, ist ein Systemwandel nötig und dabei auch die Politik gefragt. Ich glaube, dass sich der Konsum von Insektenprotein in nächster Zukunft normalisieren wird wie bei Soja, Erbsenprotein und Sushi.“

© ZIRP Insects

TIPP

Zwar arbeitet man anderenorts in der Spitzengastronomie längst auch mit Insekten. Hierzulande wiegt das Tabu jedoch noch schwer. Wer aktuell Insektengerichte probieren möchte, hat in der Wiener Innenstadt im australischen Pub Crossfield’s die Möglichkeit

www.crossfield.at

Das Wiener Unternehmen ZIRP Insects hat bereits diverse Lebensmittel aus Insektenprotein auf den Markt gebracht, die es mittlerweile auch schon bei Billa zu kaufen gibt. Außerdem veranstaltet ZIRP regelmäßig Kochkurse, bei denen man Rezepte für Gerichte aus Insekten ausprobieren kann.

zirpinsects.com 

Bild: ZIRP Burger aus gemahlenen Insekten

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