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Neapel Underground

complete Magazin 08/23

Vierzig Meter tief im Tuffsteinboden von Neapel locken einen Kunst-Mètro und die schaurigen Tunnel und antiken Wasserreservoires der Subzero-City Napoli Sotteranea.

 

Die Station Toledo wurde vom katalanischen Designer Óscar Tusquets Blanca entworfen, folgt dem Motto „Wasser und Licht“ und flutet die vierzig Meter tief gelegenen Schächte mit natürlichem Tageslicht
© Jürgen Hoffmann
Die Station Universitá trägt den kreativen Stempel des New Yorker Pop-Designers Karim Rashid und animiert Passanten mit knalligen Farben und Chiffren
© Jürgen Hoffmann
Die Mètro-Linie 1 aka Mètro dell’Arte hält Hunderte Kunstobjekte bereit – auch an der Station Universitá
© Shutterstock/luckyraccoon
Ein Hauch von Signore Idiana Jones: Entree ins unterirdische Napoli Sotterenea
© Shutterstock/Carlo DG

Gefürchtet, geliebt, gehasst. Das alles. Bloß kalt ließ Neapels Piazza Garibaldi Bahnreisende so gut wie nie. Ganz gleich, ob man vom südlichen Kalabrien in die Stazione Garibaldi einfuhr, oder von Roma Termini: Neben dem Bahnhof lauerte einer der berüchtigsten hässlichen Plätze Italiens. Doch das ist mittlerweile Geschichte. Bereits 2004 verwandelte sich die Piazza Garibaldi in eine Monsterbaustelle, wurde nach Entwürfen des französischen Architekten Dominique Perrault ausgehöhlt und umgegraben und 2018 endlich fertiggestellt – überspannt mit einem kühnen Dach aus baumartigen Pylonen. Einem abstrakten Wald, wie manche meinen. Nun hält das Gestänge eine Einladung in die nächste neapolitanische Unwägbarkeit bereit: Frei hängende Rolltreppen führen hier dreißig Meter in die Tiefe, machen im Bauch der Stadt mit Spiegelbildern wartender Fahrgäste bekannt – einem Werk des Konzeptkünstlers Michelangelo Pistoletti. Neapel, die latent verlotterte Muse der Avantgardisten und Anarchisten, trägt auch im Untergrund dick auf. Das gilt für die gesamte Mètro dell’Arte, die gefeierte Kunstmetro, die man hier betritt, und die einem fantastischen Museum zeitgenössischer Kunst gleicht.

Das lichte Prinzip

Tiefgang beweisen die Stationen der Mètro-Linie 1 allemal. Herausfordernd war der Bau ohnehin. Die Planer hatten einen Höhenunterschied von insgesamt 250 Meter zu bewältigen, vor allem aber ein Terrain voller Hinterhalte und Überraschungen. Neapels Untergrund ist nicht nur reich an wilden Geschichten. Sondern eben auch an Geländespalten und Wasseradern, die hier zwischen weichem Tuff- und Vulkangestein verlaufen. Das birgt Potenzial für düstere Momente, denen die Architekten, die zur Gestaltung der Mètro-Stationen eingeladen wurden, auf unterschiedliche Weise begegneten. An der Station Salvator Rosa expedieren, in schreiendes Rosa gehalten, Gänge und Wände den sonnigen Seelenzustand der süditalienischen Passagiere in den Untergrund. Das neapolitanische Faible für Autos (Pappmaché-Fiat 500) und ein Hauch von Selbstironie (Totenschädel in kaninchenaugenrosa Meeressuppe) zeugen in Form von Installationen von lockerer Hingabe an das latente Chaos oberhalb. Ein Highlight ist auch die Station Piazza Dante im Herzen des historischen Zentrums. Hier verschwimmen oben und unten, nicht zuletzt durch mit Milchglas bedeckte Tunnels. Im U-Bahnhof Via Toledo strebt der spanische Design-Grande Óscar Tusquets Blanca ganz Ähnliches an: Ein ovaler Lichtschacht saugt die Helligkeit der darüberliegenden Piazza in den Untergrund, wasserblaue Hallen verweisen auf die untermeerische Lage und Gelb erinnert an das vulkanische Tuffplateau, auf dem Neapel errichtet wurde.

Einstieg in die Unterwelt

An dieser weichen Seite Neapels arbeitet sich die Stadt seit Jahrtausenden ab – seit der Zeit der alten Griechen, der Gründer von Neapolis, um genau zu sein. Näheres dazu verrät ein Spaziergang in die Via dei Tribunali im Quartieri San Lorenzo, eine neapolitanische Gasse wie aus dem Mezzogiorno-Bilderbuch. Der Himmel ist schmal geworden in diesem Stadtteil. Genau betrachtet hat er sich in einen blitzblauen Streifen über Schluchten schlecht verputzter Fassaden verwandelt, und statt Wolken segeln hier die üblichen Wäschestücke im monochromen Blau. Alle Nebengeräusche des prallen Lebens erfüllen die enge Gasse. Selbst das Schweigen der Madonnen in ihren verglasten Mauernischen zählt irgendwie dazu – lassen sie das Gekeife aus den darüberliegenden Fenstern doch so noch ein wenig lauter tönen.

Wer jetzt bis zur kleinen Piazza San Gaetano weiterspaziert und im Haus Nummer 68 durch das Tor tritt, lernt hier eine besondere Facette der neapolitanischen Unterwelt kennen: Napoli Sotteranea. Hundertzwanzig Stufen führen in eine verborgene Welt, eröffnen ungewohnte Neapel-Perspektiven. Sie erlauben es etwa, die Kirche von San Lorenzo Maggiore vom Boden eines Brunnens aus zu betrachten. Sie lassen über altgriechische Graffiti staunen – und über eine Reihe künstlich beleuchteter Underground-Pflanzen, mit denen Designer Marco Zanuso das unterirdische Neapel einst in den verrücktesten Garten der Welt verwandeln wollte. Doch vor allem führen die Schleichwege und Kavernen entlang der Wasserkanäle und Aquädukte tief in die Geschichte der Stadt. Der riesige griechische Steinbruch, der unter dem Friedhof von Santa Maria del Pianto entdeckt wurde, ist dabei kaum mehr als eine Randnotiz aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert. Denn schon zur Ära Augustus’ konstruierten die Römer weitere Aquädukte und imposante Verkehrstunnel, die während späterer Cholera-Epidemien zu Massengräbern mutierten. Davon zeugen die Tausenden Schädel des unterirdischen Cimitero delle Fontanelle bis heute.

Höhepunkt der Tour, der, genau betrachtet, ja ein vierzig Meter unter dem Straßenniveau gelegener Tiefpunkt ist: die römische Zisterne. Fast türkisgrün leuchtet das Wasser im tief abgesenkten Wasserschacht, und die Kerzen in den Händen der Besucher lassen flackernde Schatten über grob behauene Wände huschen. Feucht ist die Luft hier immer. Aber jetzt, im Hochsommer, mit 13 Grad immer noch angenehm kühl.

Negativabdruck der Oberstadt

Die Stadt unter der Stadt gleicht einem Negativbild des bekannten Neapels, schreibt der neapolitanische Schriftsteller Luciano de Crescenzo darüber. Und in der Tat: Vieles von dem, das oben ver- und gebaut wurde, stammt aus Neapels Unterboden, dessen Tuff sich so einfach schneiden lässt wie Parmesan. Um lediglich zwei, drei miteinander verbundene Bau- und Materialgruben handelt es sich beim unterirdischen Neapel keineswegs. Expert:innen schätzen das auf mehreren Ebenen verlaufende Netz an Stollen und Kammern auf eine Fläche von zwei Millionen Quadratkilometer. Wirklich erforscht und vom Bauschutt nachfolgender Generationen befreit ist bislang gerade ein Drittels dieses unterirdischen Labyrinths.

Raum für Entdeckungen

Immer wieder hatten die Tunnelsysteme auch Bauschutt zu schlucken – ein neapolitanisches Déjà-vu. Im Zweiten Weltkrieg wurden sie als Luftschutzkeller wichtig – und als Versteck für Deserteure. Denn seit jeher diente Neapels tuffsteinerne Unterwelt ja auch, sich der Staatsmacht zu entziehen, eigene Wege in den Untergrund zu wählen. Eine Unzahl lokaler Geschichten zeugt bis heute davon. Dass man über die Brunnen in die Paläste der Mächtigen einsteigen konnte – allein das verbirgt Sozialromantik pur. Aber auch viele Opfer der Mafia wurden hier vergessen, ebenso wie so mancher längst zugemauerte Stollen. Genau das beschert Archäolog:innen immer wieder neue Überraschungen – und verblüfft mitunter auch abgebrühte Besitzer:innen illegaler Autowerkstätten. Eine typische Basso, eine neapoliatanische Erdgeschoßwohnung also, die sich im Laufe der Jahre zur Kfz-Garage verwandelt hatte, entpuppte sich etwa als Teil jenes verschollenen griechisch-römischen Theaters, in dem einst Nero sein Debüt gab.

© Jürgen Hoffmann

TIPP

Napoli Sotterranea
Begehungen von Napoli Sotterranea organisiert der gleichnamige Kulturverrein – der einzige autorisierte Anbieter. www.napolisotterranea.org

Mercato della Pignasecca
Rund um die uralte Marktgasse via Pignasecca pulsiert das authentische Napoli. Lokale Delikatessen lernt man auch im Rahmen lokaler Food-Tours kennen.

Pizza-Service
Weniger überlaufen als der Klassiker L’Antica Pizzeria da Michele (Nummernausgabe!) ist die Pizzeria Capasso am historischen Altstadttor Porto San Gennaro.

M.A.D.R.E.
Mit dem Museo M.A.D.R.E. im Palazzo Donnaregina erhielt die Stadt 2005 ein Museum für zeitgenössische Kunst.

3-Tage-Karte Campania Artecard www.campaniartecard.it

Bid: Auch von ganz oben ein Kracher: Am Ende des Trips mit der Zahnradbahn Funicolare wartet der höher gelegene Nobelbezirk Vomero mit grandiosem Golfo-Panaroma

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